Die EU muss ihre Handelspolitik neu ausrichten. Das zeigt das niederländische Nein zum EU-Ukraine -Abkommen.
Sicher: Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hat bei der Abstimmung über das EU-Ukraine-Abkommen Fehler gemacht und damit den Rechtspopulisten in die Hände gespielt. Das „Nee“ in der Volksabstimmung als niederländisches Problem zu erklären, wie Kanzlerin Merkel es tut, greift zu kurz. Die wachsende Kluft zwischen „denen da in Brüssel“ und eines wachsenden Teils der Bevölkerung, auch in Deutschland, ist unübersehbar. Sie hat mit dem Agieren der Kommission, aber auch mit dem der Regierungen in den EU-Staaten zu tun. Letztere haben über die Mandatserteilung einen erheblichen Anteil an der Ausrichtung europäischer Handelspolitik. Die Regierung Merkel ist einer der Haupttreiber der Liberalisierungsagenda. Die Frage, welche Schlüsse aus dem Votum zu ziehen sind, stellt sich deshalb in Den Haag, Brüssel und Berlin gleichermaßen.
Das bereits seit 1. Januar 2016 in der vorläufigen Anwendung befindliche Abkommen infrage zu stellen, ist keine Option. Sie liefe auch dem Willen der Mehrheit der EU-Staaten zuwider, die das Abkommen bereits ratifiziert haben. Ebenso wenig kommt infrage, den politisch wie wirtschaftlich gebeutelten Handelspartner Ukraine, dessen engere Anbindung an die EU die Bevölkerungen auf beiden Seiten befürworten, vor den Kopf zu stoßen.
Die Schlüsse müssen deshalb nicht für dieses Abkommen, sondern für die weitere Ausrichtung und Umsetzung der EU-Handelsagenda gezogen werden. Mit dem Satz, sie bekomme ihr Mandat nicht von der europäischen Bevölkerung, lag die EU-Handelskommissarin inhaltlich richtig, politisch hat sie damit jedoch Schaden angerichtet. Eine Kommission, die angesichts von fast 3,5 Millionen Unterschriften gegen Ceta und TTIP an ihrer zu stark von Konzerninteressen getriebenen Freihandelsagenda festhält, trägt zur weiteren Verschärfung der Vertrauenskrise bei anstatt zu deren Lösung. Der Versuch, TTIP-Kritiker als Antiamerikanisten, Europafeinde und Rechtspopulisten abzustempeln, anstatt sich mit deren guten Argumenten auseinanderzusetzen, tut sein Übriges.
Umweltverbände, Gewerkschaften, Kirchen, Verbraucherorganisationen, Mittelständler, Richtervereinigungen, Kulturschaffende – die Liste der Kritiker von TTIP und Co umfasst weite Teile der Bevölkerung. Quer durch alle Branchen und gesellschaftliche Gruppen wächst der Widerstand, nicht nur in Deutschland.
Aus unserer Sicht wäre schon viel gewonnen, wenn die Verhandler zur Kenntnis nähmen, dass globale Lieferketten in vielen Bereichen eben nicht das alleinige Ziel von Handelspolitik sein können. Egal, ob bei Lebensmitteln oder bei der Energieversorgung – regionale Erzeugung und Wertschöpfung, Dezentralisierung und Bürgerbeteiligung sind die wegweisenden Konzepte. Deutsche Mittelständler sind auch deshalb so erfolgreich, weil sie dies für sich als den auch ökonomisch nachhaltigen Weg erkannt und ihre Investitionen und Geschäftsmodelle entsprechend ausgerichtet haben. Gut nachvollziehbar, dass sie in großer Zahl gegen Abkommen mobilisieren, die dies zu untergraben drohen.
Aber auch international schaden TTIP und Ceta – und das nicht nur, weil sie von Schwellenländern wie Russland, China oder Brasilien als transatlantischer Club beäugt werden, dem sie nicht angehören. Die fossile Agenda, die die EU für TTIP mit ihrem Vorschlag für ein Energiekapitel aufgemacht hat, läuft den Bemühungen um eine Umsetzung der Pariser Beschlüsse zum Klimaschutz entgegen. Nur gut, dass sich die USA bislang dem europäischen Ansinnen, unbegrenzten Zugang zu fossilen US-Energieressourcen zu erlangen, widersetzen. Freilich aus anderen Motiven als dem, diese zur Erreichung der Pariser Klimaziele im Boden zu belassen.
Auch zur Erreichung der 2015 in New York beschlossenen internationalen Nachhaltigkeitsziele brauchen wir ein Umsteuern in der Handelspolitik. Unverbindliche Nachhaltigkeitskapitel sind dabei das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Daten zu den Auswirkungen auf Drittstaaten je nach Situation umzuinterpretieren, wie es die Bundesregierung getan hat, wird uns auch bei der Bekämpfung der Fluchtursachen nicht weiterbringen. Dabei muss man nur eins und eins zusammen zu zählen, um zu dem Schluss zu kommen, dass die südlichen und südöstlichen Mittelmeeranrainer zusätzlich unter Druck geraten, wenn wir Südfrüchte künftig verstärkt von den Riesenplantagen im Südwesten der USA importieren.
Welchen inhaltlichen Schwerpunkt die Kritiker auch immer haben, eines eint sie: die Empörung über das Vorgehen der Kommission, Abkommen möglichst an den Menschen vorbei in Kraft zu setzen. Wer nicht weiter zur Erosion von Vertrauen in die EU und ihre Institutionen beitragen will, muss deshalb für die nächsten zur Ratifikation anstehenden Abkommen wie Ceta einen Schluss aus dem niederländischen „Nee“ ziehen – gemischte Abkommen, also solche, die auch die Kompetenzen der EU-Staaten berühren, dürfen erst dann in Kraft treten, wenn diese in ihren jeweiligen nationalen Verfahren auch zugestimmt haben.
Bei Abkommen, die nicht selten über eine Dekade verhandelt wurden und auf unbestimmte Zeit gelten, darf das Argument, man „verliere“ mit der nationalstaatlichen Ratifizierung nur wertvolle Jahre, nicht entscheiden. Es wäre viel gewonnen für eine andere Ausrichtung der Handelspolitik im Sinne von Umweltschutz, Arbeitnehmer- und Verbraucherrechten, Datenschutz, öffentlichen Dienstleistungen und anderen Belangen, die in den jeweiligen nationalen Kontexten debattiert werden.
Bärbel Höhn ist Bundestagsabgeordnete der Grünen und Vorsitzende des Umweltausschusses.